Wenn der Wald die Galerie überfallt
I
drinnen / draußen

"Mama, hier riecht es nach Wald."
– Aranza (10 Jahre)


Zwei Wochen lang musste es zweimal täglich gewässert werden, das Moos. Die erste Woche mit einem manuellen Zerstäuber: Meine schmerzenden Arme sehnten sich schon bald dem Ende herbei. Für die zweite Woche gab mir die Künstlerin einen automatischen Befeuchter und meine Arbeit wurde deutlich erleichtert. 
     Als die Vorbereitungen beendet waren, alles erledigt, zierte ein Lächeln unser aller Münder, wir waren begeistert vom Aussehen der Galerie. Die Künstlerinnen Ann Kathrin Fleuerkens und Meike Lothmann hatten etwas Großes gebaut – oder vielleicht eher angepflanzt? gewoben? Welches Verb es auch sein mag, es war eine Installation: drinnen / draußen. 
     Eine feste, geschaffene Geometrie, die durch eine amorphe Struktur gebrochen wird, von organischem Moos. Geometrie und Natur als Installation, deren Name mit Kontrasten spielt: feucht/trocken, steril/lebend, weich/rau, außen/innen. Ein Objekt nahm Besitz eines Raumabschnitts und wuchs wie ein Eindringling, der langsam aber sicher an Boden gewinnt, als ein leichter und weicher grüner Teppich, der sich erweitert und ausdehnt. Eine Pflanze braucht für einen solchen Prozess eine sehr feuchte Umgebung, in einer trockenen liegt sie schnell brach. Diese Bedingung ist ebenfalls in der Installation dargestellt, sie ist die Voraussetzung für eine Wiederherstellung eines Naturraums.
     Ann-Kathrin und Meike, beide Essener Urspungs, sind anerkannte Künstlerinnen in der alternativen Kunstszene des Ruhrgebiets. Sie habe einige ihre Objekte und Graffiti-Moose bei verschiedenen Festivals und Space Offs ausgestellt; dies war das erste Mal, dass sie eine eigens konzipierte Installation dieser Größenordnung in einer Galerie vorzeigten.
     Es ist eine sehr schwer einzuordnende Arbeit: Ist es Land Art, obwohl sie nicht in freier Umgebung ist? Oder ist es vielleicht das genaue Gegenteil, "nur" eine Installation mit organischen Elementen? Ein Lebens-Werk?
     2013 war ich Besucher einer Retrospektive brasilianischer Kunst in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main. Das Thema der Ausstellung hieß Kunst für die Sinne. Die Auswahl der gezeigten Werke war hervorragend. Man konnte unter anderem durch riesige hölzerne Tunnel von Henrique Olivieras schlendern oder auch die psychedelischen Landschaften von Mari Nepomucenos betrachten. Eines der Werke, die meine besondere Aufmerksamkeit erregten, war eine Installation von Ernesto Neto. Es war ein Netzwerk aus Fäden, das durch das Gewicht von speziell platzierten Kugeln geformt von der Decke herabhing. Die Kugeln waren mit verschiedenen Gewürzen gefüllt und jeder Baustein hatte einen eigenen, charakteristischen Geruch: Pfeffer, Vanille, Anis, Tamarinde, Safran und vieles mehr war zu riechen. Es war eine ungeheuer eindrucksvolle Arbeit, die so verschiedene Dinge hervorrufen konnte wie Erinnerungen an glücklichere Tage oder eine ferne Sehnsucht nach Exotik.
     Auf ähnliche Art und Weise hat die Moos-Installation drinnen / draußen die Präsenz eines Waldes in der Galerie andeuten können. Sie war in der Lage, als ein winziger Bruchteil eines angedeuteten Ganzen zu fungieren; der Geruch von Moos als Stellvertreter eines ganzen Waldes eroberte in jenen Tagen die kalten und kargen Wände und Räume des White Cubes.

II
The Moos is Present.
Auf der anderen Seite der Galerie wurde parallel zur Moos-Installation eine Serie von Illustrationen von Meike Lothmann ausgestellt: Feine Linien aus Aquarell zeigen Menschen, die verschiedene, von Moos überzogene Objekte betrachten. Basierend auf dieser Idee konzipierte der Galerist zur Ausstellung der Installation eine weitere Serie: Eine Fotoserie der Besucher, die vor dem Moos sitzen und es betrachten. Eine Fotoserie, die eine spielerische Hommage an die berühmte Performance von Marina Abramovic, The Artist is Present, die sie im MoMA in New York durchführte, werden sollte.
     Das Ergebnis der Idee war eine Serie von 20 Fotos, auf denen das Moos und wechselnde, es betrachtende Personen zu sehen sind. Sie kam auch bei den beiden Künstlerinnen gut an und wurde der Dokumentation der Arbeit beigefügt.
     Die Galerie wurde während der Anwesenheit der Installation auch zum Zentrum intensiver Diskussionen über  erschiedenste Themen rund um Moos, Biologie und Natur. Es wurde diskutiert über die Nutzung biologischer Materialien in Kunstwerken, das Sexualleben von Moos, darüber wie verschiedene Spinnen die Installation eroberten, das ethische Problem des vielen Wassers, das verbraucht wurde, über die Arbeit, das Kunstwerk (verzeihung: Lebens-Werk) am Leben zu halten, die Zukunft des verwendeten Materials (würde es in den Papierkorb kommen, oder organisch entsorgt werden?), über Geruch als Komponente von Installationen und natürlich über die Idee, das Moos nach der Ausstellung in einem Wald auszusetzen. Dies und andere Themen zeigten dabei vor allem eins: Ohne Ausnahme wurde jeder Betrachter von der Installation berührt, ergriffen; es gab niemanden, der dem Werk gleichgültig gegenüberstand, vielleicht einige, die dachten, die Künstlerinnen seien verrückt. Die Mehrheit jedoch hatte, wie wir bei der Fertigstellung der Arbeit, beim Betrachten ein Lächeln im Gesicht, beinahe wie Kinder, die mit versunkenem Blick, nein eher noch genüsslich schnuppernd frisch gebackene Schokoladenkekse betrachten.  
Nach zwei Wochen verließ der Wald die Galerie dann wieder.

Text. Oscar Ledesma

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